Eine kleine Zeitreise von den ersten Glocken bis zu den Bachert-Glocken


Anfänge: Metall, das zu singen beginnt

Wenn heute eine Glocke erklingt, klingt immer auch Geschichte mit: vom ersten Versuch, Metall zum Singen zu bringen, über Kriege und Katastrophen bis hin zu den Glocken, die heute in modernen Gießereien entstehen. Glocken sind so etwas wie verdichtete Zeit – in Bronze gegossene Erinnerungen.

Die Ursprünge reichen weit zurück. Schon im alten China wurden frühe Bronzeglocken gegossen; in Europa tauchen Glocken ab der Spätantike und dem frühen Mittelalter im kirchlichen Umfeld auf. Anfangs sind es kleine Handglocken und einfache Turmglocken, die Klosterhöfe und Kirchenräume strukturieren. Mit der Romanik und Gotik kommen hohe Türme hinzu – und mit ihnen der Wunsch, weithin hörbare, große Glocken zu gießen.


Frühe Stimmen: Glocke von Canino und Lullusglocke

An den Beginn unserer europäischen Zeitreise gehört eine eher unscheinbare, aber bedeutende Glocke: die sogenannte Glocke von Canino, heute in den Vatikanischen Museen. Sie stammt aus dem 8. oder 9. Jahrhundert und ist eine der ältesten bekannten Bienenkorbglocken. Ihr gedrungener, bienenkorbförmiger Körper wirkt fast bescheiden – und doch zeigt sie, wie früh Menschen verstanden, dass sorgfältig geformtes Metall mehr kann als nur Lärm machen: Es bündelt Klang, trägt weit und kann eine Gemeinschaft zusammenrufen.

Ein gutes Jahrhundert später begegnen wir in Bad Hersfeld einer der großen Pionierinnen deutscher Glockengeschichte: der Lullusglocke. Sie wurde im Jahr 1038 gegossen und gilt als älteste datierbare gegossene Glocke Deutschlands. Ihre Form ist noch deutlich archaisch – eine dünnwandige Bienenkorbrippe, eher Gefäß als gotische Turmglocke. Jahrhunderte lang eröffnete sie das Lullusfest; bis heute erklingt sie nur zu besonderen Anlässen. An ihr wird sichtbar, wie weit die Kunst des Glockengusses schon vor fast tausend Jahren war – und wie behutsam man mit einer solchen Kostbarkeit umging.


Städte und ihre Glocken: Hosanna, Gloriosa und Pummerin

Mit dem Aufblühen der Städte und Kathedralen werden auch die Glocken größer und selbstbewusster. Im Freiburger Münster hängt seit 1258 die berühmte Hosanna-Glocke (oft auch Hosianna geschrieben). Sie wiegt gut drei Tonnen, misst etwa 1,6 Meter im Durchmesser und gehört zu den ältesten erhaltenen Großglocken dieser Größe. Über Jahrhunderte war sie die größte Glocke des Münsters – und mehr noch: die „Stimme der Stadt“. Ihr Klang rief nicht nur zu Gottesdiensten; er warnte bei Feuer, begleitete Belagerungen, Markttage, Gerichtssitzungen. Ihr Name – ein Hosianna-Ruf – wirkt fast programmatisch: Glocken geben Jubel, Not und Hoffnungen einer Stadt hörbar wieder.

In diese Reihe gehören auch andere berühmte Glocken: Die Gloriosa im Erfurter Dom etwa, 1497 gegossen, gilt vielen als eine der klangschönsten mittelalterlichen Glocken Europas. Und in Wien erzählt die Pummerin im Stephansdom eine besonders vielschichtige Geschichte: Sie wurde – in ihrer ersten Fassung ebenso wie beim Neuguss nach 1945 – vorwiegend aus eingeschmolzenen türkischen Kanonen gegossen, erbeutet nach den Türkenkriegen. Hier zeigt sich das metallene Wechselspiel zwischen Krieg und Frieden besonders deutlich: Aus Waffen wird eine Glocke, die – zumindest ihrem Anspruch nach – zum Frieden rufen soll.


Zwischen Kanonen, Glocken und Feuerwehrspritzen

Damit sind wir mitten in einem Thema, das bei Glocken leicht vergessen wird: Die gleiche Legierung, das gleiche handwerkliche Wissen, das Glocken hervorbringt, wurde lange auch für ganz andere Zwecke eingesetzt. Glockengießer waren über Jahrhunderte nicht nur „Klangkünstler“, sondern Metallhandwerker mit breitem Spektrum. Wer eine große Bronzeform beherrschte, konnte eben nicht nur Glocken gießen, sondern auch Kanonen – und später Feuerwehrspritzen.

Das Verhältnis ist dabei doppeldeutig. Einerseits wurden Glocken in Kriegszeiten immer wieder selbst eingeschmolzen und zu Geschützen verarbeitet. Andererseits gibt es Beispiele wie die Pummerin, bei der aus Kanonen wieder Glocken entstehen. Die Geschichte der Firma Bachert zeigt eine andere Variante dieser Verbindung: Der aus Siegen stammende Kaspar Bachert ließ sich im 18. Jahrhundert im badischen Dallau nieder und goss zunächst Messingknöpfe, bald aber auch Glocken und Feuerspritzen. Aus der Glockengießerei entwickelte sich eine Feuerwehrgerätefabrik, die Benzinmotor-Feuerspritzen und komplette Löschfahrzeuge produzierte. Dass hier Glockenguss und Feuerwehrtechnik so eng zusammengehören, ist mehr als eine Randnotiz: Der gleiche Werkstoff dient mal der liturgischen Feier, mal dem Löschen von Bränden – beides rettet Leben, nur auf unterschiedliche Weise.


Beinahe verloren: Offenburger Glocken in Breisach

Wie gefährdet Glocken im Lauf der Geschichte waren, zeigt eine Episode aus der Rheingegend.

 1689  wurden aus Offenburg insgesamt 22 Glocken als Beute abtransportiert – bestimmt für den Schmelzofen und die Umwandlung in Kanonen. Zwei der klanglich besonders geschätzten Glocken konnten jedoch in Breisach „freigekauft“ werden: Magistrat und Bürger waren so beeindruckt von ihrem Klang, dass sie den zuständigen Artillerieoffizier gegen Zahlung einer erheblichen Summe überredeten, andere, „mißtönige“ Glocken für die Kanonenproduktion herzugeben. Aus fast sicher zum Tode verurteilten Metallkörpern wurden so „alte Offenburgerinnen im Breisacher Münster“, die bis heute von dieser Rettung erzählen.

Diese Geschichte steht stellvertretend für unzählige andere. In beiden Weltkriegen wurden hunderttausende Bronzeglocken beschlagnahmt, auf sogenannte Glockenfriedhöfe gebracht und zu Rüstungszwecken eingeschmolzen. Was blieb, waren Lücken im Klangbild ganzer Landschaften.


Verlust, Wiederaufbau – und die Rolle der Bachert-Glocken

Nach den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts beginnt noch einmal eine neue Epoche der Glockengeschichte. Die massenhaften Verluste an Kirchenglocken führten nach 1945 zu einem großen Bedarf an Neugüssen. Traditionsreiche Gießereien wie Bachert wurden zu Akteuren eines akustischen Wiederaufbaus: Aus den Lücken der alten Geläute entstanden neue Klanglandschaften, die sowohl historische Vorbilder als auch moderne klangliche Vorstellungen berücksichtigen.

Ein heutiges Beispiel ist das Breisacher Stephansmünster: Dort erklingt ein vielstimmiges Geläut, das historische Glocken – darunter gerettete Stücke – und neue Bachert-Glocken verbindet. Die alten Stimmen wurden nicht einfach ersetzt, sondern bewusst ergänzt. Traditionelle Lehmformtechnik und moderne Klangberechnung arbeiten hier zusammen, um ein Geläut zu schaffen, das in die Gegenwart spricht und doch hörbar aus der Geschichte kommt.

Schaut man auf diese Zeitlinie – von der Glocke von Canino über die Lullusglocke und die Hosanna in Freiburg, über Gloriosa und Pummerin bis zu heutigen Bachert-Glocken – dann wird deutlich: Glocken sind weit mehr als dekorative Klangkörper. In ihnen bündeln sich technische Innovation, künstlerischer Anspruch, politische Geschichte und persönliche Frömmigkeit. Sie wurden aus Angst eingeschmolzen, aus Triumph gegossen, aus Dankbarkeit gestiftet, aus Verzweiflung geopfert. Und gerade darum berühren sie viele Menschen, obwohl kaum jemand noch weiß, aus welchem Jahrhundert die eigene Pfarrglocke stammt.

Vielleicht liegt darin auch die eigentliche Botschaft der Glocke: Sie erinnert daran, wie eng Freude und Leid, Krieg und Frieden, Tradition und Gegenwart miteinander verflochten sind. Wenn eine Glocke schlägt, hören wir nicht nur einen Ton – wir hören ein Echo von Jahrhunderten. Und irgendwo zwischen dem etwas sturen Schlag der Lullusglocke, dem mächtigen Ruf der Hosanna und dem warmen Klang einer frisch gegossenen Bachert-Glocke liegt unsere eigene Zeit: ein kurzer Abschnitt in einer langen Geschichte, die mit jedem Läuten weitergeschrieben wird.


Quellen (Auswahl)

  • Fachliteratur und Online-Artikel zur Geschichte der Glocken und des Glockengusses
  • Informationen des Stifts Bad Hersfeld zur Lullusglocke
  • Informationen des Freiburger Münsters zur Hosanna-Glocke
  • Domkapitel Erfurt: Angaben zur Gloriosa im Erfurter Dom
  • Dompfarre St. Stephan Wien: Geschichte der Pummerin
  • Firmenchronik und Veröffentlichungen der Glockengießerei Bachert (Entwicklung von Glockenguss, Feuerwehrtechnik und aktuellen Geläuten)
  • Regionalhistorische Beiträge zur Geschichte der Offenburger Glocken und ihrer Rettung nach Breisach